Den Begriff "Stigma" hat Erving Goffman (1967) in die Soziologie eingeführt. Aber was ist das eigentlich? Das Wort beschreibt zunächst einmal eine Zuordnung: Gesellschaften neigen dazu, zu vereinfachen und dabei Kategorien und Gruppen von Menschen zu schaffen, denen sie dann bestimmte (positive oder negative) Eigenschaften zuordnen. Der Begriff „Stigma“ verweist allerdings meist auf eine besonders negative Eigenschaft bzw. abwertende Sicht auf eine Person.
Eine oder mehrere stigmatisierte Person(en) verfügen, wie Goffman beschreibt, über ein Merkmal, das Aufmerksamkeit erregt und bewirken kann, dass andere sich bei der Begegnung mit dieser Person von ihr abwenden. Die anderen Eigenschaften dieses Individuums treten dann in den Hintergrund und werden unwichtig. Ein Stigma zu haben bzw. ‚stigmatisiert‘ zu sein heißt, (meist auf unerwünschte Art) anders zu sein. ‚Anders‘ heißt in diesem Fall einfach, dass etwas (gegebenfalls negativ) abweicht von dem, was als ‚normal‘ oder eben als wünschenswert angenommen wird.
Ein Stigma ist also nie einfach da, sondern entsteht in sozialen Interaktionen – also in Situationen, in denen Menschen miteinander umgehen und aufeinander reagieren. Das Merkmal selbst spielt dabei eigentlich keine Rolle, sondern nur das, was die ‚Anderen‘, also die vermeintlich ‚Normalen‘ damit verbinden. Das "Stigma" ist also nicht die auffällige Sache oder Eigenschaft selbst, sondern vielmehr eigentlich die Situation in der die stigmatisierten Menschen sich befinden und von anderen Menschen ausgeschlossen werden. Ein Stigma wirkt so ähnlich wie ein Vorurteil: Es hat weniger mit dem Verhalten der stigmatisierten Person zu tun, als mit der Einstellung der Person, die ihr wegen ihres Stigmas Eigenschaften zuschreibt. Der Vorgang, in dem stigmatisierten Menschen ‚schlechte‘ oder zumindest bemerkenswerte Eigenschaften zugeschrieben werden, heißt dann "Stigmatisierung".
Stigmatisierte Gruppen gibt es immer wieder und an allen Orten der Welt und die Folgen für Betroffene sind oft schwerwiegend. Sie werden isoliert, haben schlechtere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Das negative Bild von außen bleibt oft nicht ohne Wirkung auf die Selbstwahrnehmung und die eigene Identität.
Das Stigma von Stadt Null
Ein Stigma kann körperlicher Natur sein: eine Narbe, eine Deformation oder, wie Goffman es am Anfang seines Buches beschreibt, eine fehlende Nase. Es kann aber auch von anderen Eigenschaften abgeleitet werden, z.B. woher ich komme oder mit wem ich verwandt bin. So ist es auch den Bewohner:innen von Stadt Null passiert: Nachdem das jährliche Frühlingsfest gefeiert wurde, wurde die Stadt als Krankheitsherd identifiziert. Besonders viele infizierte Menschen sollten hier leben und außerdem seien diese Menschen (selbst) ->schuld. Schließlich haben sie ja (gegen offizielle Empfehlungen) ein Fest gefeiert und sich damit alle gegenseitig angesteckt. Alle Bewohner:innen von Stadt Null werden damit verdächtig, infiziert zu sein und eine Krankheit zu übertragen, von der man nur eines weiß: Sie ist gefährlich.
Dass eine Person aus Stadt Null stammt, sieht man ihr nicht an der Nasenspitze an, wohl aber an ihrem Ausweis oder daran, dass sie gerade versucht, die Stadt zu verlassen. Im Arbeitsumfeld und in der näheren Umgebung kennt man sich und weiß, wer woher kommt, ohne, dass ein Ausweisdokument gezückt werden muss. So wissen z.B. die Kolleg*innen von ->Hans und der Autofahrer im Wald, der den verrirten -> Pfarrer stehen lässt, ganz genau, dass Hans und der Pfarrer aus Stadt Null kommen und wollen deshalb nicht in ihrer Nähe sein. ->Frauke und ihre Familie spielen mit diesem Stigma als sie im Urlaub am Strand ein Mosaik aus Steinen hinterlassen, das folgende Worte formt: „Stadt Null was here!“.
Heute, wo die Welt wieder andere Probleme hat als eine Pandemie, scheint das Stigma von Stadt Null fast vergessen. Und doch lohnt es sich, daran zu erinnern, dass es diese sozialen Mechanismen gibt und dass sie auch hinterfragt werden können. Habt ihr selbst schon einmal das Gefühl gehabt, stigmatisiert zu sein und deshalb anders behandelt zu werden?
Quellen:
Cloerkes, Günther (2000). Die Stigma-Identitäts-These. Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-00 S.104-111.
Goffman, Erving (2014) [1967]. Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp: Frankfurt.