Sozialfiguren

Ein wichtiger Bestandteil von Ereignissen wie einer Pandemie ist die gesellschaftliche Diskussion dazu, denn sie bestehen auch aus Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen und zu denen wir Stellung beziehen. Diese Geschichten werden durch uns und über verschiedene Medien verbreitet, z.B. Zeitungen, Twitter, X, Instagram, Facebook etc, aber natürlich auch im persönlichen Gespräch. Teil dieser Geschichten sind auch Figuren, die auf eine bestimmte Art und Weise handeln und damit einen Diskussionsraum dafür eröffnen, wie wir das Handeln dieser Figuren moralisch bewerten. Das heißt, Menschen kommen darüber ins Gespräch, ob sie das Verhalten von Person X richtig oder falsch finden. In der Soziologie werden solche Figuren auch als „Sozialfiguren“ bezeichnet. Vor allem die beiden Soziologen Sebastian Moser und Tobias Schlechtriemen haben sich ausgiebig mit ihnen beschäftigt. Sie erscheinen, so erklären die beiden Autoren, oft als geeignetes Mittel, um Fragen nachzugehen, die einer Gesellschaft unter den Nägeln brennen, für die sie aber noch keine klaren Lösungen hat. Solche Fragen können zum Beispiel sein, was in einem solchen Fall wie einer Pandemie zu tun ist, welche Regeln eingehalten werden sollten, ob Masken oder Impfungen hilfreich sind und einiges mehr. Anhand solcher Figuren, wie z.B. Hamsterkäufer:innen, Maskengegner:innen, dem -> Nachbarn, der die Polizei ruft oder dem "Patient 0" werden moralische Felder interpretiert und verhandelt. Die Geschichten solcher Figuren provozieren Fragen von Schuld, Verantwortung oder Solidarität, dem "richtigen" oder "falschen" Benehmen. Sie können emotionale Reaktionen hervorrufen, z.B. bewundert oder verurteilt werden. Zugleich sind sie aber keine realen Personen im eigentlichen Sinne, sondern Protagonist:innen, also Figuren von Geschichten, an denen größere, gesellschaftliche Debatten verhandelt werden.

Der Ausbrecher von Stadt Null

Wenn wir uns die Geschichte des "Ausbrechers" genauer ansehen, können wir beobachten, wie er von einer realen Person, die z.B. -> Max heißen kann, zu einer Sozialfigur wird, an der moralische Fragen verhandelt werden und die neue Situation der Pandemie ausgelotet wird. Die neue Situation beinhaltet die Auseinandersetzung mit den neuen Regeln und Einschränkungen, die nun unter der Prämisse gelten, nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen vor Infektionen zu schützen. Unser „Ausbrecher“ hat diese Regeln gebrochen und im Internet entbrennt eine Diskussion um ihn und sein Verhalten. Die meisten Diskussionsbeteiligten fordern schlimme Strafen für den Ausbrecher: Er soll eingesperrt werden oder sehr viel Geld zahlen. Andere wünschen ihm sogar Schlimmeres: Dass er und seine Familie krank werden oder anderweitig körperlich leiden. Das kann man nun übertrieben finden, auf der anderen Seite aber auch beobachten, wie sich die Figur des Ausbrechers von der Person „Max“ ablöst und zu einer Sozialfigur der Pandemie wird, an der moralische Felder abgesteckt werden. Man verhandelt darüber, ob solche Regeln (z.B. eine Ausgangssperre) richtig oder falsch sind, ob es übertrieben ist, wenn Ausbrecher:innen eine Anzeige bekommen, man vergleicht diese Situation mit anderen Situationen etc. "Unser" Ausbrecher Max erfüllt also auch eine erzählerische Funktion, er wird als Figur gebraucht, um sich (mehrheitlich) darauf zu einigen, dass man sich so nicht verhalten sollte. Kurz zusammengefasst heißt es also: In Stadt Null ging es weniger um Max persönlich als um ein gemeinschaftliches Abtasten der neuen Situation "Austangssperre".

Den Ausbrecher als Sozialfigur in den Blick zu nehmen, ändert nichts daran, dass Personen wie „Max“ auch im richtigen Leben unter einem solchen Shitstorm leiden können und dass während der Pandemie die ein oder andere Freundschaft zerbrochen ist, dass Menschen unterschiedliche Einstellungen zu den neuen Regeln hatten. Trotzdem ist dieser Blick hilfreich, um die gesellschaftliche Funktion solcher Diskussionen besser zu verstehen. An welche Sozialfiguren der Pandemie erinnert ihr euch?

Quellen

Moser, Sebastian J. and Tobias Schlechtriemen (2018). Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose. In Zeitschrift für Soziologie Vol.47, 3: 164-180. Oldenburg: De Gruyter, https://doi.org/10.1515/zfsoz- 2018-1011

Moser, Sebastian J. and Tobias Schlechtriemen (2019). „Social Figures - Between societal experience and sociological diagnosis”. Paris: Fondation Maison des sciences de l’homme, https://halshs.archives- ouvertes.fr/halshs-01972078/ document.

Moser, Sebastian J. and Tobias Schlechtriemen (2020). Sozialfiguren der Corona-Pandemie – ein Aufschlag. In: Sozialfiguren der Corona-Pandemie. Essen: Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, https://blog.kulturwissenschaften.de/sozialfiguren-der-corona-pandemie/.