Den Begriff „Rolle“ hört man meist im Zusammenhang mit Film und Theater, wenn zum Beispiel eine Schauspielerin die „Rolle“ der Julia im Stück „Romeo und Julia“ spielt. Den Begriff gibt es aber auch in der Soziologie und dort beschreibt er, dass wir uns im Verlauf unseres Lebens immer wieder in verschiedenen Kontexten und Situationen wiederfinden und uns (meistens) entsprechend verhalten. Wir alle, so könnte man sagen, üben in unserem Leben verschiedene Rollen aus und manchmal löst auch eine Rolle die andere ab bzw. wechseln wir zwischen verschiedenen Rollen hin und her. Wenn eine Person zum Beispiel erst Mathe in der Schule belegt und später auf Lehramt studiert, dann ist sie anfangs Schülerin und später Lehrerin. Andere Rollen hingegen werden im gleichen Lebensabschnitt zeitgleich ausgeübt: So sind manche Menschen zugleich Vater, Freund, Nachbar und Kollege. Folgt man der Rollentheorie von Talcott Parson, dann haben all diese Rollen eine Gemeinsamkeit: Sie haben mit bestimmten Erwartungen und Verhaltensmustern für die Menschen zu tun, die sie ausfüllen. So zum Beispiel erwarten wir von Freund:innen, dass sie uns zuhören und sich für uns einsetzen, von einer Person, die uns Brötchen verkauft, erwarten wir andere Dinge…zum Beispiel: Brötchen. Rollen sind also Verhaltenserwartungen, die mit bestimmten sozialen Situationen, Positionen und Institutionen verbunden sind, aber natürlich auch mit der Beziehung, die wir in bestimmten Zusammenhängen mit einer Person haben. Rollen bzw. das, was wir über sie wissen, sind also auch eine Art Fahrplan oder Drehbuch für das tägliche Miteinander. Dass dieses Miteinander im Alltag oft recht gut und reibungslos funktioniert, hat u.a. mit dem zu tun, was in der Soziologie als „Sozialisation“ und „Sanktion“ bezeichnet wird. „Sozialisation“ beschreibt den Prozess des Hineinwachsens von Menschen in eine bestimmte Gesellschaft. Dazu gehört, dass wir bestimmte Verhaltensweisen erlernen und übernehmen und auch, dass es Erwartungen an das „richtige“ Verhalten gibt. So zum Beispiel, wie man ein „richtiger Vater“ oder eine „gute Kollegin“ ist. Manchmal werden Erwartungen an bestimmte Rollen auch direkt angesprochen, zum Beispiel wenn Dinge gesagt werden wie „in deinem Alter macht man das doch nicht mehr“. Oftmals läuft Sozialisation aber indirekter, impliziter ab, zum Beispiel indem Verhalten „sanktioniert“ wird. Sanktionen sind Reaktionen, die darauf abzielen, das Verhalten von Rolleninhaber:innen zu verstärken (wenn es den Erwartungen entspricht) oder zu korrigieren bzw. zu bestrafen (wenn es von den Erwartungen abweicht). Sanktionen können also positiv (Belohnung) oder negativ (Bestrafung) sein. Es kann allerdings zu verschiedenen Problemen kommen, entweder wenn zeitgleich ausgeübte Rollen miteinander in Konflikt geraten („Interrollenkonflikt“) oder wenn wir mit den Erwartungen, die an eine unserer Rollen gerichtet werden, nicht einverstanden sind („Intrarollenkonflikt“).
Rollenkonflikte in Stadt Null
Beides ist bspw. bei Hans zu beobachten: Was während des Lockdowns von ihm als Privatperson – in der Rolle als Vater, Ehemann oder Nachbar – erwartet wird (und was er von sich selbst erwartet), erscheint ihm zumindest manchmal im Widerspruch zu seiner Berufsrolle als Mitarbeiter einer staatlichen Behörde zu stehen. Soll und will er einerseits seine Familie und Freund:innen unterstützen, muss er sich doch (und vielleicht sogar mehr als die anderen) an die gesundheitspolitischen Verordnungen halten und ein Vorbild sein. Würde er nämlich beim heimlichen und verbotenen Baumarktbesuch erwischt werden, würden ihm nicht nur alltägliche Sanktionen, sondern berufliche Disziplinarmaßnahmen drohen. Gleichzeitig will er weiterhin solidarisch mit seinen Nachbar:innen und Freund:innen sein. Dass die Frage danach, was "richtig" oder "falsch" ist, ganz unterschiedliche beantwortet werden kann, sehen wir an der Geschichte des -> Nachbarn von Max' Freund:innen. Für ihn ist das Einhalten von Regeln und das Melden von Fehlverhalten der Weg, der alle bestmöglich schützt, auch wenn es vielleicht dadurch einen Konflikt in der Nachbarschaft gibt. Hans setzt andere Prioritäten.
Hinzu kommt, dass -> Hans zumindest manche der neuen Regeln und Verordnungen übertrieben und nicht gerechtfertigt findet, weshalb er sich in seiner Rolle als Mitarbeiter des Ordnungsamtes zumindest zeitweise unwohl fühlt: Hans als Mitarbeiter des Ordnungsamtes müsste Kinder und Eltern am -> Ententeich darauf hinweisen, dass sie hier gar nicht sein dürfen, weil er außerhalb der Stadtgrenzen liegt. Hans der Vater und Nachbar kann sehr gut verstehen, dass die Ablenkung am Ententeich jetzt dringend gebraucht wird. Hans‘ Kinder spielen also heimlich doch mit anderen Kindern und er selbst achtet darauf, dass niemand dabei erwischt wird. Er erlebt also sowohl einen Inter- als auch einen Intrarollenkonflikt.
Habt ihr auch solche Konflikte erlebt?
Quellen
Abels, H. (2019). Einführung in die Soziologie. Band 2: Individuen in ihrer Gesellsschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. S.73-77 und 105-133
Marton 1957: The role-set. Problems in sociological theory. In: The British Journal of Sociology, VIII, June, 1957.
Parsons (1951): The social system. New York: Free Press, 1964.